Der Gentleman und auch die Lady brauchen nicht lange nachzudenken, wie sie jetzt, wenn die Tage fröstelnd schrumpfen, die Abende inszenieren. Sobald die heilige Stunde des Aperitifs schlägt, gehen sie, erfaßt von einer Sehnsucht nach dem melodiösen Klirren der Gläser, an den Schnapsschrank und mixen sich einen Cocktail. Welchen, das hängt von der Stimmung ab.
Mal ist vielleicht der raffinierte „Tosca“ angebracht (ein Stück Würfelzucker mit Bénédictine tränken, in eine Schale legen, ein Glas Port dazugießen, mit kaltem Champagner auffüllen, diskret umrühren). Verwegener ist der „Thunderclap“: je zwei Glas Brandy, Gin und Whisky zusammen schütten und herrisch einmal durchrühren. Nach dem Servieren gab Harry Craddock, der geniale Chef der Londoner “Savoy-Bar“ und Erfinder dieses Donnergetränks, eine Empfehlung: „Renne um Dein Leben.“
Stets angemessen als abendliche Trink-Ouvertüre ist der große Klassiker namens „Dry Martini“: viel Gin, wenig Noilly Prat plus eine grüne Olive mit Stein.
Das große klassische Ingrediens vieler Cocktails und Longdrinks ist Gin – wie etwa beim legendären Gimlet, einem rassigen Halbehalbe-Gemisch aus Gin und Lime Juice. Zwar rütteln Wodka und seit einiger Zeit verstärkt der Rum am Thron dieser wasserklaren Spirituose mit dem warmen Wacholdergeschmack, aber dank verbesserter Rezepturen und neuer Premium-Marken erlebt Gin eine gloriose Renaissance, gewinnt er wieder an Terrain. Weder professionelle Barkeeper noch private Mixer können auf Tanqueray, Beefeater, Bombay Sapphire, Hendrick’s, Blackwood’s, Bulldog, Plymouth & Co verzichten. Und in London, der globalen Metropole des Gins, wird ernsthaft kolportiert, die 2002 gestorbene Queen Mum sei nicht zuletzt wegen ihrer Vorliebe für mehrstöckigen Beefeater oder Old Raj, gerne pur genossen, seltener mit Tonic gestreckt, geistig rege 102 Jahre alt geworden. Gin half Luis Bunuel, dem berühmten Regisseur des Surrealen, seine Flugangst zu unterbinden.
An Gin besticht die Vielfalt der Aromen. Während Wodka als eher simples Produkt eines einfachen Destillationsprozesses aus Getreide, Kartoffeln oder anderen kohlehydratreichen Dingen in erster Linie alkoholisch und sonst nach nichts schmeckt, fasziniert mehrfach gebrannter Gin durch die von Marke zu Marke unterschiedliche geschmackliche Präsentation.
„No two gins are the same“ sagen die Kenner und tatsächlich: keiner schmeckt wie der andere. Basis jeden Gins ist in der Regel ein hochgrädig destillierter, neutral schmeckender Kornbrand, also wirklich nichts Besonderes. Das Geheimnis seiner distinguierten, Leib und Seele wärmenden Geschmeidigkeit liegt in den kräuterigen sowie gewürzigen Zutaten, den sogenannten „Botanicals“ oder „Herbals“, die dem ersten Brand beigemengt werden. Sobald der Alkohol diesen Zutaten genügend Duft- und Geschmacksstoffe entzogen hat, wird das solcherart natürlich aromatisierte Gebräu ein weiteres Mal destilliert.
Seine Individualität verdankt Gin der Art und Menge dieser Zutaten. Die Wacholderbeere ist das bestimmende Element, doch darüber hinaus hat jede Brennerei ihre eifersüchtig gehütete Rezeptur. Beefeater verwendet neun „Botanicals“, „Plymouth“ genügen sieben. Im „Bombay Sapphire“ sorgen neben Wacholderbeeren aus Italien zehn Stoffe wie beispielsweise Mandeln, Limonenschalen, Iriswurzeln, Süßholz, Zimt, Kubebenpfeffer, Koriander und Angelikawurzel für die milde Würze; Liebhaber monieren freilich, dass die Firma den Alkoholgehalt von ehedem 47 auf 40 Prozent herabgesetzt hat. Gleich mit 60 Prozent wartet der „Blackwood’s“ von den Shetlands auf, der seine Raffinesse aus Beigaben wie Veilchen, Wasserminze, Ingwer, Seerosen und Kurkuma bezieht. In einem hellen Bläulich schimmert „The London No. 1“ (47 Prozent und zwölf Botanicals à la Wacholder, Zimt, Bergamotte, Mandel, Koriander, Angelika, Iris etc.). Mit den Zutaten gehen die Produzenten recht offen um, geheim bleiben die Details wie die Dosierung und so manches Kräutlein extra.
Der hocharomatische, gleichermaßen ungewöhnlich wie delikat mit Rosenblättern aus Bulgarien und Gurkenschalenkonzentrat zusätzlich angereicherte schottische “Hendrick’s“ („It is not for everybody“ lockt das Haus kokett auf dem Etikett) präsentiert sich mit wohligen 44 Prozent Alkohol, wohingegen „Gordon’s“ mit 37,5 Prozent auskommt. Der Weltmarktführer schmeckt entsprechend weich, gilt als biedere Konsumware. Zu den Traditionsmarken gesellten sich in den letzten Jahren diverse Premium-Gins mit ungewöhnlichem Geschmacksprofil. „Tanqueray“ macht mit seinem „No. Ten“ (47,3 Prozent) Furore: neben Wacholderbeeren, Koriander, Angelika und Kamillenblüten dominieren Zitrusaromen den Geschmack. Beefeater, die große alte Marke, zog mit einem herrlich altmodischen „Crown Juwel“ (50 Prozent Alkohol) von sanftwürzigem Geschmack nach. Der schottische „Alambic“ reifte jahrelang in gebrauchten Whiskyfässern.
Gin wird gerne mit britisch gleichgesetzt. Da ist was dran, das alte Empire hat den Wacholdertrank zwar von den Niederländern übernommen, sich damit aber als Weltmacht etabliert. Umso bemerkenswerter sind Gin-Kreationen aus anderen Ländern wie der französische Designer-Gin „Citadelle“ mit 19 „Botanicals“, darunter exotische Pflanzen. Orangefarben glänzt der „Saffron“ aus Dijon, diskret nach Safran schmeckend und mit 40 Prozent samtweich. Gleich 27 „Botanicals“ à la Angelikawurz, Kurkuma, Süßholz und Zitronenzesten führt der „Blue Gin“ des österreichischen Obstbrenners Hans Reisetbauer auf (43 Prozent Alkohol), während „The Duke“, ein veritabler Bio-Gin aus München, 13 Zutaten wie Koriander, Zitrusschalen, Angelika, Lavendelblüten, Ingwer, Orangenblüten, Kubebenpfeffer und natürlich Wacholder nebst Hopfenblüten sowie Malz als genuin bayerischer Note zum Aromatisieren des Kornbrandes verwendet. Ganze 47 Kräuter, darunter Zimt, Lavendel, Zitrone und natürlich Wacholder, aromatisieren den 47prozentigen „Monkey 47“ aus dem Schwarzwald.
Erfunden worden ist der Gin in den Niederlanden. Franziskus Sylvius de Bove, Mediziner in Leyden, braute auf der Suche nach einem Therapeutikum gegen Magenleiden, Schwindsucht und andere Wehwehchen um 1572 ein Destillat aus Getreide, versetzte es mit reichlich Wacholder und nannte es auf französische Art „Genièvre“ für Wacholder.
Die Holländer verballhornten das Wort zu „Jenever“ beziehungsweise „Genever“, das später die Engländer, denen das „Tschiniver“ schwer über die Zunge ging, zum „Gin“ verkürzten und daraus neben Ale und Whisky ihr Nationalgetränk machten. Anfangs glich das massenhaft erzeugte Gebräu einem Fusel, an dem sich vor allem die Unterschichten als billigem Glücksbringer, „people’s spirit“ genannt, labten. Man sprach von der Epoche des Badewannen-Gins. Erst ab dem späten 18. Jahrhundert verbesserte sich die Qualität, wurde aus dem minderwertigen Brand ein achtbares Getränk, das nun auch von den Lords geschätzt wurde.
Der endgültige Durchbruch zum respektierten Drink auch der High Society erfolgte in der international populären Verbindung als „Gin & Tonic“ mit Eis.
Speziell in der Marine beliebt war und ist der „Pink Gin“ als Mix mit einigen Tropfen chininhaltigem Bitterlikör aus der getrockneten Rinde des Angosturabaums. Zum wahren Inbegriff britischer und zumal kolonialer Drink-Eleganz avancierte jedoch die Gin-Tonic-Liaison, die in imperialen Zeiten auch als Prophylaxe gegen die Malaria diente und heute noch weit oben in der Bestenliste der Bars rangiert.
Es bleibt unerfindlich, weshalb Gin im Gegensatz zu anderen Spirituosen eher selten solo getrunken wird. Dafür trumpft er beim Mixen von Cocktails auf, zahlreiche Genre-Klassiker vom Gin-Fizz über Gimlet, Tom Collins, Pimms Cup und White Lady bis hin zum Fixstern namens Dry Martini basieren auf Gin.
Eine weitere legendäre Gin-Rezeptur ist der 1915 im Hotel „Raffles“ in Singapur – das „Savoy“ Ostasiens – erfundene Singapore Sling, den Barmann Ngiam Tong Boon original so komponierte: ein halbes Maß Gin mit einem Viertel Cherry Brandy sowie einem Viertel Orangen-, Ananas- und Limonensaft mischen, jeweils einige Tropfen Cointreau, Benediktiner und Angostura hinzufügen, mit einer Kirsche drapieren. Das tiefe Rot dieser Sinfonie ließ keinen Rückschluß auf die verwendete Menge an Gin zu. In London servierte Harry Craddock im „Savoy“ eine entschärfte Salon-Variante: Saft einer viertel Zitrone, ein Viertel Gin, zwei Viertel Cherry Brandy, alles aufgespritzt mit Sodawasser.
Nur noch Geschichte ist hingegen ein medizinischer Cocktail, sinnig benannt nach dem Londoner Krankenhaus „Brompton“, bestehend aus Gin, Morphium und Honig – eine Mixtur, die als eine Art säkulare letzte Ölung todkranken Patienten eingeflößt worden ist.
(Der Beitrag ist entnommen aus dem Gourmet- und Reisemagazin SAVOIR VIVRE)
kafl