Die Weißwurst ist eine jener wenigen Würste mit eigener Hymne, getextet vom Münchner Poeten Herbert Schneider: „Du Königin im Wurstrevier, du schön gekurvte Tellerzier, lass dir den weißen Hermelin von deinen zarten Schultern ziehn!“
Beim Oktoberfest auf der Münchner „Wies’n“ wird ihr tonnenweise der Garaus gemacht: der Weißwurst, jenem Münchner Symbol, das umwabert ist von Regeln und Ritualen, Mißverständnissen, Legenden und Geheimnissen!
Seit 2022 gibt es sie auf dem Münchner Oktoberfest auch vegan, da die Nachfrage nach vegetarischen und veganen Gerichten selbst auf diesem traditionellen Volksfest ansteigt. Allerdings ist die vegane Variante wohl noch nicht ganz ausgereift und verfehlt den Geschmack vieler Besucher, die sie mutig probiert haben. Die Kabarettistin Monika Gruber hat bei einem Testessen des Bayerischen Rundfunks beispielsweise kritisiert, die vegane Wurst schmecke „wie gepresste Sägespäne“. Und legt dann bei der BILD-Zeitung nach: „Vegane Weißwürscht schmecken übrigens wie Montage-Schaum, der in ein Kondom abgefüllt wurde, mit einer leichten Kalk-Note im Abgang. Grausig.“
Eine Weißwurst ist eine Weißwurst?
Warenkundlich gewiß, doch solche simple Definition treibt jedem aufrechtem Bayern, wozu vor allem jene gehören, denen, ganz lieb gemeint, der Gamsbart sozusagen direkt aus dem Hinterkopf zu wachsen scheint, die Zornesröte ins Gesicht. Eine Weißwurst ist ihnen eine Weltanschauung, die man bevorzugt am späten Vormittag zu sich nimmt, mit süßem Senf, einer lauwarm aufgebackenen Laugenbrezen und hohem sittlichen Ernst. Bei der Weißwurst verewigt der Münchner seine Biedermeierphilosophie, zu der die unerschütterliche Überzeugung gehört, dass die Würste nur in Bayern schmecken und dort auch erfunden worden seien.
Letzteres darf allerdings ein bisschen bezweifelt werden. Der Mär zufolge soll der 22. Februar 1857, ein Rosenmontag, das Geburtsdatum der Weißwurst sein – als Folge eines glücklich endenden Mißgeschicks des Metzgerwirts Sepp Moser, dem frühmorgens in seiner Wirtschaft „Zum ewigen Licht“ am Marienplatz beim morgendlichen Wursten die Schafsdärme für seine Kalbsbratwurst ausgegangen seien. Doch die Gäste, hungrig vom Faschingstreiben, wollten bedient werden, also füllte der findige Mann das Kalbsbrät in Schweinsdärme und brühte die Würste in heißem Wasser aus Sorge, sie könnten beim Braten platzen. Man reagierte erst überrascht, dann begeistert und seither hat die Weißwurst ein zumindest offiziöses amtliches Datum.
Wahrscheinlicher ist, dass die Wurzeln der Weißwurst bis tief ins Mittelalter hinein reichen. Und es gibt die These, dass bereits im 14. Jahrhundert ein französischer Koch eine boudin blanc, also eine weiße Wurst, aus dem Kessel geholt haben soll und dass diese Kreation, veredelt mit Kaviar, im Gefolge Napoleons oder auch früher nach München gekommen sei. Im „Menage de Paris“ ist immerhin eine Wurst aus geschabtem Kalbsbrät nebst „Häutelwerk“ aus gekochten Kopfschwarten, Zitronenschale, Petersilie und Macis-Blüte verzeichnet. Fügt man etwas Schweinespeck hinzu, so ist man der Weißwurst-Rezeptur schon sehr nahe. Das Gros der heutigen Weißwürste enthält wohl reichlich Schweinefleisch, aber traditionell korrekt ist die Dominanz des Kalbfleisches (vorgeschrieben sind 51 Prozent), angereichert um ein wenig Speck, aromatisiert mit Gewürzen (Pfeffer, Muskat), belebt mit etwas frischer Petersilie, eventuell Zitronenaroma und gebrüht mit zerhacktem Eis, das für die lockere und saftige Konsistenz sorgen soll. Berühmt sind die Würste vom Münchner Metzger Ludwig „Wiggerl“ Wallner (www.gaststätte-grossmarkthalle.de), der sie aus reinem Kalbfleisch nebst einem Spritzer Maggi herstellt und nach Bestellung individuell frisch in einem Topf ohne Deckel aufsiedet.
Wie es sich für einen Mythos im Schweinsdarm gehört, umwabern ihn noch weitere Legenden wie jene, dass die Weißwurst das mittägliche Zwölfeläuten nicht überleben darf. Diese Verhaltensregel stammt aus der Frühzeit der Wurst, als es noch keine ausreichende Kühltechnik gab und es üblich war, die Weiße roh aus der Metzgerei zu entlassen. Wegen des leicht verderblichen Bräts, das sich zudem rasch in ein unansehnliches Blaßgrau verfärbte, musste die Wurst, ob zu Hause oder in der Wirtsküche, sofort gesotten werden. Ein weiterer Grund war wohl auch das Kalkül der Gastronomen, zu Mittag mehr Geschäft mit stattlichen Speisen zu machen als mit vergleichsweise billiger Weißwurst.
Damals gab es noch keinen Otto Koch. Dieser geniale Koch, der bis zu seiner Pensionierung im Münchner Olympiaturm seine Gäste mit feinen Gerichten entzückte, schuf nämlich vor mehr als 30 Jahren im „Schwarzwälder“ eine Weißwurst aus Meeresfrüchten, die er mit einer Senfsauce und in Butter gedünstetem Wirsing servieren ließ – eine keineswegs billige Kreation, die Furore machte.
Hans-Peter Wodarz, lange Jahre Chef der „Ente“ in Wiesbaden und nie um einen PR-Gag verlegen, ließ für den Ball des Sports beim Münsinger Metzger Limm mit Blattgold angereicherte Weißwürste herstellen. Von altbayerischen Traditionalisten verfemt werden die getrüffelten und mit Champagnerkraut flankierten Weißwürste im Käferzelt auf dem Oktoberfest. Auch Alfons Schuhbeck bewegte sich mit seinen panierten und ausgebackenen Weißwurstradeln im Grenzbereich des guten Weißwursttons.
Mehr Gewicht als die Bewertung solcher Neuerungen hat unter notorischen Weißwurstfans freilich die Frage, wie man das Objekt ihrer Begierde verzehrt. Da gibt es mehrere Schulen. Rustikal, doch weder besonders ästhetisch noch elegant und mittlerweile selten gesichtet ist die Methode des „Zuzelns“; dabei wird die Wurst in die Hand genommen, an den Mund gehalten und das Innere stückweise und geräuschvoll aus der Pelle gesaugt – eine Technik, die im Süddeutschen eben als „zuzeln“ benannt wird. Eher verpönt ist das portionsweise Abschneiden der Wurst; diese Variante wird selbst dann verächtlich als „preußisch“ tituliert, wenn sie von einem Japaner praktiziert wird. Einfach und stilsicher ist das längsseitige Halbieren der Wurst, deren köstliches Innere einem Kalbfleischsoufflé gleicht und würdig in mundgerechten Stücken mit süßem Senf verzehrt wird – regelgerecht ohne die Haut, die wird, so spotten Münchner, nur von den als sparsam bekannten Schwaben mitgegessen.
kafl