Die Sardinen, die jetzt im September vor westeuropäischen Küsten gefangen, frisch per Hand verarbeitet und als Jahrgangsdosen in den Handel kommen, sollte man reichlich kaufen – und nicht essen, jedenfalls nicht sofort, denn diese „Sardines Millésimes“ können nicht nur lange lagern, sie benötigen – wie edler Wein – mindestens fünf Jahre, um ihren geschmacklichen Höhepunkt zu erreichen, getreu dem kulinarischen Prinzip, dass konservierte Produkte durch Reife enorm an aromatischer Finesse zulegen können. Zumal überreife Sardinen zergehen, ja schmelzen förmlich auf der Zunge. Generell gilt, dass mit Haut und Gräten eingelegte Sardinen weitaus saftiger schmecken und ein dichteres Aroma haben als ihre nackt oder als grätenloses Filet eingepackten Artgenossen, aber hochwertige Jahrgangssardinen stehen geschmacklich haushoch über einfachen Ölsardinen. Zwar reagieren selbst erfahrene Feinschmecker immer noch irritiert, ja ungläubig und sogar abwehrend auf die Empfehlung, Sardinendosen bis zum Ende des Verbrauchsdatums und darüber hinaus aufzubewahren. Aber es ist so: In Öl eingelegte Sardinen, die zu den Heringsfischen zählen und nicht länger als zehn, zwölf Zentimeter sein sollen (größere Exemplare ab 16 Zentimeter werden übrigens Pilchard genannt), schmecken immer besser, je länger sie reifen.
Sehr gut nachvollziehbar ist das bei den sogenannten Jahrgangs-Sardinen, die einmal die Norm waren und inzwischen – aus klassischen Erzeugerländern wie Portugal, Marokko, Spanien und speziell Frankreich – wieder häufiger angeboten werden. Die Preise pendeln je nach Jahrgang und Image des Produzenten zwischen 5 und 14 Euro; für sehr alte Dosen müssen auch bis zu 50 und 100 Euro berappt werden. Man sieht: auch Dosenfisch kann Kult sein.
Das Sardinen mit der Angabe des Jahrgangs auf dem Etikett kein Spleen exaltierter Feinschmecker sind, ergibt sich schon aus der Art der Herstellung. Zwar werden auch in Billigdosen nur Sardinen eines Jahres geschichtet, aber für die deklarierten Jahrgangssardinen wird nur beste und frische Qualität verwendet – nachts gefischt, morgens verarbeitet – , bevorzugt die Fänge im September, die über mehr Fett und ein besonders dichtes Aroma verfügen. Nur die schönsten, also die ebenmäßigsten und vor allem fangfrischen Sardinen werden handwerklich geschuppt, ausgenommen, geköpft, für eine knusprige Haut kurz gegrillt oder frittiert, mit Meersalz gewürzt und in feinem Olivenöl nebst Gewürzen eingelegt, seltener noch in Erdnußöl.
Neuerdings dost die Manufaktur „La Quiberonnaise“ einen Teil ihrer Jahrgangssardinen auch in Butter ein, der hochwertigen „Beurre Bordier“. Diese Fingerspitzengefühl verlangende Arbeit wird traditionell von Frauen erledigt. In der Bretagne nennt man diese chirurgisch arbeitenden Spezialistinnen “Penn sardin“, was Sardinenköpfchen bedeutet, abgeleitet von den weißen Spitzenhauben, die Frauen früher trugen („Penn sardin“ ist auch ein Sardinenfachgeschäft im französischen Fischerort Douarnenez: www.pennsardin.com).
In der Dose beginnt die Phase der Reifung. Es dauert ein Jahr, bis die Gräten weich werden. Mindestens weitere drei bis fünf Jahre sind nötig, bis die Jahrgangssardinen ihren ersten geschmacklichen Höhepunkt erreicht haben, auf dem sie sich noch lange halten – für 20 und 30 Jahre alte Raritäten werden auch 100 Euro und mehr bezahlt. Der Pariser Starkoch Paul Minchelli serviert Stammgästen unter einer silbernen Cloche eine halbgeöffnete Dose mit mindestens fünf Jahre alten Sardinen – und dazu gibt es eine Flasche Montrachet, einen Chardonnay aus Burgund, der zu den weltweit teuersten Weißweinen zählt. Dieses Luxuspaket wird mit runden 500 Euro berechnet.
Das Öl dringt mit den Jahren tiefer in das Fleisch der Fische ein, es muß die Sardine durchtränken, die dadurch mürber wird, ohne weich oder gar matschig zu werden. Das Aroma wird vielschichtiger und dichter, ja ziselierter und feiner. Deshalb dürfen die Sardinen nicht eng in die Dose gequetscht, sondern eher locker aneinander gereiht werden. Kenner empfehlen, die Dosen alle halbe Jahre zu wenden, damit sich das Öl inniger mit der Sardine vermählen kann. Sammler von Jahrgangssardinen nennt man „Clupéidophile“ (abgeleitet vom lateinischen „Clupeidae“ für die Familie der Heringe) oder „Puxisardinophile“. Deren Guru ist Vyvyan Holland, der Sohn von Oscar Wilde, der 1935 in London einen Edelsardinen-Club gegründet hatte, dessen Mitglieder sich regelmäßig zu Verkostungen sowie tiefsinnigen Gesprächen über die Sardine treffen.
Früher einmal haben qualitätsorientierte Produzenten ihre Produkte erst nach einer Vor-Reife von zwei bis vier Jahren auf den Markt gebracht. Heute triumphiert leider auch in diesem Geschäft der schnelle Umsatz über kulinarischen Anspruch, werden die Dosen – wegen der hohen Lagerkosten – bereits nach wenigen Monaten in den Handel gegeben. Es ist daher ratsam, Ölsardinen wie Grand Cru-Wein bei sich zu Hause ausreifen zu lassen, getrost auch ein bisschen über das angegebene Verzehrdatum hinaus. In norwegischen Haushalten ist es durchaus üblich, Ölsardinen vor dem Konsum in der geschlossenen Dose einige Zeit lang an die Sonne zu legen, bis sich der Deckel sanft zu wölben beginnt.
Tatsächlich sind Sardinen nahezu unbegrenzt haltbar, speziell für die Millésimes werden besonders stabile Metalldosen eingesetzt. Im Gegensatz zu deutschen Konsumenten, die Sardinen mehrheitlich wohl immer noch als biederes Futter abtun, gerade recht als Verlegenheitslösung für einen in der Küche unerfahrenen Junggesellen mit alleiniger Fähigkeit zum Öffnen einer Konserve, gelten in Frankreich zumal die „Sardines millésimes“ längst als Kult und selbstverständlich würdig, elegant serviert zu werden – beispielsweise in Kristallschalen, appetitlich flankiert von Kapern, gehacktem Ei, etwas Senf und Zitronenscheiben zu Baguette. Beliebt ist auch die Kombination von Sardinen auf getoastetem und gebuttertem Weißbrot.
Dazu paßt ein herber Muscadet von der Loire, ein halbtrockener Riesling oder ein leichter Rotwein, aber auch ein trockener Sherry-Manzanilla ist ein angemessener Partner. Und Mutigen eröffnet sich ein raffiniertes Geschmacksspiel zwischen einer perfekt gealterten Jahrgangssardine mit einem reifen edelsüßen Wein.
Der macht sich auch gut zu den klassischen Admirals-Spaghetti, die nach dem üblichen Kochen mit folgendem Ragout beträufelt werden: gehackten Knoblauch mit zerrupften Sardinen, gewürfelten Tomaten und Chili in Olivenöl anbraten, mit Weißwein ablöschen und mit Parmesan würzen. Köstlich schmeckt ein lauwarmer Kartoffelsalat mit Dosensardinen und Kapern.
Welche Sardinensorte man wählt, ob mild, würzig, scharf, hängt selbstverständlich vom persönlichen Geschmack ab. Wer es gerne pikant mag, ist beispielsweise mit der portugiesischen „Nuri“ vorzüglich bedient. Bei der sorgt, nebst Gewürzen sowie einem dünnen Gurkenscheibchen eine eingelegte rote Mini-Chilischote (die Portugiesen sagen Piri-Piri) für diskrete Schärfe. Bekannt für Jahrgangssardinen – mit Preisen zwischen vier und zwölf Euro pro Dose – sind Manufakturen wie „La Quiberonnaise“, „Capitaine Cook“, „Connétable“, „Albert Ménès“, „La Perle des Dieux“, „La Douarneniste“ (alle Frankreich) sowie „Los Peperetes“ im spanischen Galicien.
Erfreulicherweise sind Sardinen keine Dickmacher. Lässt man das Öl abtropfen, reduziert sich der Nährwert auf durchschnittliche 220 Kalorien pro 100 Gramm, was etwa 100 Gramm Vollkornbrot entspricht. Von einer Kalorienbombe, wie oft fälschlich angenommen wird, kann also keine Rede sein. Und in Olivenöl eingelegte Sardinen enthalten zudem reichlich die berühmten Omega-3-Fettsäuren inklusive deren günstiger vorbeugender Wirkung gegenüber Gefäßverkalkung und Kreislauferkrankungen.
Von ihrer Art her ist die Sardine in der Dose eine Dauerkonserve, geschmackvoll und preiswert obendrein. Sie eignet sich ideal als eiserne Ration für die Speisekammer und als rasch zubereiteter Imbiss für die spontane Bewirtung von Gästen. Darüber hinaus sind Sardinen, mit etwas Zitrone beträufelt und kombiniert mit hartgekochten Eiern, Kapern, Senf, fein gehackter Zwiebel und geröstetem Weißbrot, eine Delikatesse von besonderem Rang und ein die Sinne animierender Kick am Morgen nach intensiver Weinprobe.
Kafel