Man kann ihnen nicht entrinnen und will es auch gar nicht: den Linsen. Die köstliche, lange als unfein diffamierte Hülsenfrucht ist zum Liebling der Köche avanciert. Am heimischen Herd und im bürgerlichen Gasthaus kommen Linsen gewöhnlich als Eintopf auf den Tisch, die Schwaben schätzen sie zu Spätzle mit Würsten, wohingegen sie in der gehobenen Gastronomie delikat mariniert, auch sanft geräuchert oder elegant püriert als Beilage zu Gänseleber, Hummer und Jakobsmuscheln serviert werden.
Linsen verdienen den Küchen-Oskar
Moderne Klassik umweht den kroß gebratenen, mit Berglinsen und einer Specksauce servierten Zander. Das ist ein schmackhafter Beleg, wie variationsreich ein Koch mit Phantasie die Linsen verwerten kann, jene uralte Frucht, deren Duft dem biblischen Esau derart verführerisch in die Nase stieg, dass er, hungrig von der Feldarbeit heimkehrend, für ein Linsengericht – vermutlich eine Art Chorba adass, eine Suppe mit Olivenöl, Knoblauch und Minze, wie sie heute noch im Libanon aufgetischt wird – sein Erstgeburtsrecht an den Bruder Jakob verscherbelte, was so viel heißt wie für fast nichts.
Das grosse Linsen-Mißverständnis
Seither umgibt Linsen die Aura des Genügsamen. In älteren Kochbüchern werden sie wohl wegen ihres hohen Gehalts an Mineralstoffen, Vitaminen und Eiweiß gerühmt, doch die Rezepte weisen durchweg in die Richtung billig und sättigend, beginnend bei Suppen und endend als säuerlich abgeschmecktes Gemüse zu Fleisch- und Fischgerichten. Kein Wunder, dass Linsen mit dem Ruf eines „Arme-Leute-Essens“ behaftet sind. Woran das liegt, vermag einem niemand so richtig zu erklären. Hartnäckig halten sich Hinweise, dass Linsen schwer verdaulich seien, sie Magen und Darm reizten, zu Schlafstörungen führten. Das mag stimmen, aber nur, wenn die Linsen falsch gekocht und anschließend noch mit viel Mehlschwitze sowie Speck reichlich mißhandelt werden. Generationen von einfallslosen Köchen und Autoren haben zum großen Linsen-Mißverständnis beigetragen.
Im „Appetit-Lexikon“, 1894 in Wien von den Herren Habs & Rosner erstmals aufgelegt, werden Linsen so arrogant wie unkundig inklusive einem Hauch von Ironie beschrieben: „…denn die Linsen stehen bezüglich der Verdaulichkeit im denkbar schlechtesten Ruf, so daß man sie von ganzem Herzen dem biderderben Landmann gönnt, dessen tatkräftiger Magen leichter mit derartigen Unholden fertig wird.“
Ein Linsensalat galt damals geradezu als Zumutung für einen feinen Gaumen. Und die „Linsensuppe auf Schweizer Art“, wie sie im Universallexikon der Kochkunst von 1886 präsentiert wird, animiert wohl kaum zum Nachkochen. Da werden Linsen zusammen mit Zwiebeln und Knoblauch weich gekocht, die Brühe mit einer hellbraunen Mehlschwitze verdickt und „häufig thut man eine Viertelstunde vor dem Anrichten eine geräucherte Bratwurst mit in die Suppe“.
Wer aber je die schwarze, rundlich geformte und wie Kaviar glänzende Beluga-Linse mit dem zarten Maronenaroma als Gemüse zubereitet hat, aus der grün-schwarz gesprenkelten, herrlich nussig schmeckenden Puy-Linse aus der französischen Auvergne einen Salat zauberte, die grünbraune Berglinse aus dem umbrischen Castelluccio (Lenticchie umbre) marinierte und vielleicht zu einer Schweinskopfsülze aß oder sie mit Möhren, Knoblauch, Tomate und Olivenöl zu einer Creme pürierte und auf ein nach Bruschetta-Art in Olivenöl geröstetes Brot schmierte, der hat das wahre, über jeden Eintopf himmelweit hinaus ragende Talent dieser kleinen Linsenarten schätzen gelernt – wie Günter Grass, der Dichter, oder Altbundeskanzler Helmut Schmidt, die beide Linsen süß-sauer als Leibspeise achteten.
Dass sich mit Linsen kulinarisch weit mehr anstellen läßt als die Hausmütterchen-Literatur überliefert, beweist vollmundig ein Couscous oder ein mit Orangenschale, Senf, Sahne und Speck angereichertes Linsengemüse zu einem Carrée vom Spanferkel. Farblich schön fürs Auge und lecker obendrein ist die – bereits vor Jahren – von Heinz Wehmann im Landhaus Scherrer in Hamburg entworfene Kalbskopfsülze, umrahmt von roten, gelben und schwarzen Linsen.
Medaillons vom Seeteufel gewinnen durch eine Linsen-Vinaigrette an Finesse (aus Essig, Salz, Pfeffer, einer Prise Zucker und Olivenöl eine Sauce rühren, mit Zwiebel, Porree, Chili, fein gewürfelt, mischen und mit den fertig gegarten Linsen vereinen – anstelle Olivenöl macht sich gut eine Mischung aus Nuß- und Distelöl, einige Streifen Maracuja und Mango verleihen der Marinade eine diskrete exotische Note).
Köstlich schmeckt ein mediterran angemachtes Linsengemüse: Fein gehackte Zwiebel- und Gemüsewürfel in etwas Olivenöl andünsten, al-dente geköchelte Linsen (Le Puy oder Berglinsen) hinzufügen, mit einigen Löffeln Kalbsfond sowie altem Balsamicoessig fertig garen, mit Salz, Pfeffer, Kräutern und Olivenöl abschmecken. Ist pur ein Genuss und paßt bestens zu Gerichten wie gebratener Geflügelleber oder gratiniertem Ziegenkäse.
„Mein Linseneintopf braucht ein Glas Rotwein! Er bringt den nussigen Geschmack der Linsen erst richtig zur Geltung.“ Léa Linster
Zutaten | für 4 Personen
250 g Tellerlinsen
100 g mittelgroße Karotten
100 g Knollensellerie
2 Zwiebeln
1 Gewürznelke
2 EL Butter
¼ l Rotwein
1 l Hühnerbrühe
1 Lorbeerblatt
200 g durchwachsener Räucherspeck am Stück
Meersalz, Pfeffer
Crème fraîche zum Servieren
Zubereitung
Für die Suppe die Linsen etwa 1 Stunde in kaltem Wasser einweichen. Inzwischen die Karotten und den Sellerie schälen und in sehr feine Würfel (Brunoise) schneiden. Die Zwiebeln schälen, eine Zwiebel ebenfalls sehr fein würfeln, die zweite mit der Gewürznelke spicken. Die Linsen in ein Sieb abgießen und abtropfen lassen. Die Butter in einem Suppentopf erhitzen und das fein geschnittene Gemüse darin andünsten. Die abgetropften Linsen dazugeben und kurz mitdünsten. Mit dem Rotwein ablöschen und mit der Hühnerbrühe oder mit heißem Wasser aufgießen. Die gespickte Zwiebel, das Lorbeerblatt und den Räucherspeck zu den Linsen geben und alles bei schwacher Hitze 45–60 Minuten köcheln lassen, bis die Linsen weich sind. Den Räucherspeck herausnehmen und in schmale Streifen schneiden. Den Eintopf kräftig mit Meersalz und Pfeffer abschmecken. Den Eintopf in vier vorgewärmten Suppentassen anrichten. Die Räucherspeckstreifen darauf verteilen, jeweils 1 Nocke Crème fraîche daraufsetzen und sofort servieren. Dazu gibt’s natürlich Rotwein.
Je kleiner die Linse ist, desto mehr Geschmack hat sie, denn die Aromastoffe sitzen direkt an der Schale, und bei Minilinsen bis zu einem Durchmesser von etwa vier Millimeter ist der Anteil der geschmacklich relevanten Stoffe verhältnismäßig groß. Kenner werden deshalb auch die ungeschälten Sorten vorziehen; gelbe sowie rote geschälte Linsen eignen sich allerdings gut für Pürees, Soßen und Suppen. Als Brotaufstrich hat sich besonders die leicht mehlige, rötlich-braun gefärbte Château-Linse bewährt, die erstmals in der Champagne angebaut worden ist und deshalb auch als „Champagner-Linse“ geführt wird. Eine Rarität ist die schwäbische Alb-Linse, die Bio-Bauern auf der Alb seit 1985 auf der Basis der Le Puy-Sorte rekultivieren (www.alb-leisa.de).
Linsen werden nach Farbe und Größe unterschieden. Man kennt grüne, gelbe, braune, rote, schwarze und orangefarbene Linsen. Die häufigste Sorte ist die flache, grün oder braun schimmernde Tellerlinse, sieben bis acht Millimeter groß, deftig schmeckend und bevorzugt für Eintöpfe genutzt. Zu den feinen kleinen Linsen gehört die Pantelleria aus Süditalien mit ihrem herb-würzigem Geschmack. Im Gegensatz zu Hinweisen selbst in modernen Küchenführern müssen Linsen heute nicht mehr eingeweicht werden, weil sie in der Regel saisonfrisch auf den Markt kommen – freilich getrocknet, wie es sich bei dieser exotischen, nur in warmem und trockenem Klima reifenden Frucht gehört.
Eckart Witzigmann, der namhafte Koch, nennt das nächtliche Einweichen schlicht einen „Schmarrn vom Feinsten“. Durch das Wässern beginnen die Linsen gerne zu keimen und zu gären, wodurch sie unangenehm schmecken und übles Aufstoßen provozieren. Besser ist es, so der Jahrhundertkoch, „sie in kaltes Wasser zu geben, kurz aufkochen und danach in einem Sieb abtropfen zu lassen (dabei nicht salzen!)“. Allenfalls lange gelagerte Linsen könnten durch das Wasserbad an Zartheit gewinnen.
Toskanische Linsensuppe:
Eine kleine Zwiebel in Streifen schneiden und in Olivenöl andünsten. Linsen und ein Lorbeerblatt hinzufügen, mit Gemüsebrühe oder Rindsfond bedecken und al-dente köcheln; die Linsen sollen weich, doch nicht matschig sein. Am Ende der Garzeit leicht salzen. Die fertig gegarten Linsen behutsam durch einen grobporigen Schaumlöffel drücken, doch dabei nicht zu einem Brei zerstampfen. Die Suppe sollte von dickflüssiger Konsistenz sein und wird nun mit Olivenöl sowie Kräutern (wahlweise Majoran, Thymian) abgeschmeckt. Abschließend in jeden Teller ein in Olivenöl geröstetes und mit Knoblauch tüchtig eingeriebenes Weißbrot legen, die Suppe darüber gießen und gegebenenfalls noch einen Schuß Olivenöl dazu geben.
Bei den Römern stand die Linse in hohem Ansehen, in Indien wird sie bis heute im Rang eines Heiligtums verehrt.
In hohem Ansehen stand die Linse übrigens schon bei den alten Römern, die sie auch namentlich entsprechend würdigten: Lens culinaris, so ihr botanischer Name bis heute. Von Apicius, dem Schriftsteller und praktizierenden Gourmet, sind drei Rezepte aus der Kaiserzeit überliefert, darunter eines, in dem Linsen mit Maronen gemischt und püriert werden, gewürzt mit Koriander, Kümmel, Minze, Honig und Essig.
In Indien, dort Dal genannt, genießt die Frucht den Rang eines nationalen Heiligtums, denn es gibt kaum ein Gericht, das nicht von Linsen in 1001 Varianten von der Paste über Currys (Linsen al-dente köcheln, mit Curry, Ingwer, Chili und Koriander würzen) bis süßlich gebacken begleitet wird.
Im Altertum galt die kleine Hülsenfrucht sowieso als Delikatesse. Pharao Ramses I. hat sie auf Bildern verewigen lassen, und die Trojaner haben sich laut Homer an Linsen delektiert, bevor sie mit den Griechen kämpften. Dass sie am Ende verloren, weil sie der List des Odysseus mit dem hölzernen Riesenpferd erlagen, kann wohl nicht den Linsen angerechnet werden.
Gemessen an ihrer Delikatesse und der vielen Zubereitungsmöglichkeiten verdient die Linse als wahres kulinarisches Kraftpaket einen Küchen-Oscar. Hinzu kommt ihr hoher gesundheitlicher Wert: kaum ein anderes Nahrungsmittel enthält derart viele Nähstoffe wie vor allem hochwertiges Eiweiß, Magnesium, Kalium, Eisen, Phosphor und Mangan sowie Vitamine K, E und C. Vitamine der B-Gruppe sorgen für bessere Nerven sowie eine schöne Haut. Schließlich besagen alte Bräuche, dass Linsen nicht nur Glück bringen, sondern in der Silvesternacht mit Zampone, dem gefüllten Schweinsfuß, verzehrt, auch für reichen Geldsegen im neuen Jahr sorgen.
kafel