Er kommt leise, auf Zehenspitzen und meist über Nacht. Noch nie ist es einem Menschen gelungen, ihn zu ertappen. Auf einmal ist er da, man riecht ihn und fühlt ihn: IHN, den Frühling, den herzlich willkommenen Erneuerer des Jahres und der Sinne. Die Erdkruste beginnt sich zu erwärmen und die Gefühle dehnen sich. Die Körperchemie verändert sich mit der Folge, dass die schwere Bratenpfanne weggelegt wird und die Lust auf heitere, ja frivole Weißweine die auf kapitale Rote zumindest zeitweilig überwiegt.
Der Mensch geht, wie von einem geheimnisvollen Trieb bewegt, auf den Markt, in den Garten oder in die Natur, wo zartwürzige Kräuter, sich skurill spreizender Löwenzahn, Bärlauch und junger Knoblauch ahnungsvoll nach der neuen Saison duften. Man muss kein dickes Kräuterlexikon studiert haben, um zu wissen, dass die grünende Natur eine große Apotheke ist und der wunderbarste Selbstbedienungsmarkt für gesundheitsbewusste Feinschmecker. Ein paar Grundkenntnisse, ein offenes Auge und ein Taschenmesser genügen, um im Frühling und Sommer bei Spaziergängen über Wiesen und durch Wälder essbare Wildpflanzen zu ernten. Gesät hat der liebe Gott: Brennnessel, Bärlauch, Löwenzahn, Gänseblümchen, Brunnenkresse, Sauerampfer, Wiesenkerbel, Spitzwegerich &Co.
Bärlauch
Allein schon der Bärlauch verdient eine Hymne. An ihm, dem vor wenigen Jahren noch Vernachlässigten, kommt heute kein Koch mehr vorbei; auf den Märkten wird er bündelweise gepriesen wie das Wunderkraut schlechthin. Was ist das Geheimnis dieser Karriere? Im Gegensatz zu Zitronengras und anderen asiatischen Würzmitteln, die ebenfalls seit Jahren küchenpolitisch populär sind, aber nach den ersten modischen Erfolgswellen in der Gunst des Publikums langsam an Reiz einbüßen, wird dem Bärlauch jedes Jahr aufs Neue mit Pomp gehuldigt. Von der Cremesuppe bis zum Sorbet – in diesen Wochen gibt es kein Entrinnen, der Bärlauch ist schon da!
Bärlauchöl
Man nehme sechs Hände voll Bärlauchblätter, eventuell ergänzt um einige Bärlauchzwiebeln, schneide alles in grobe Stücke, schichte es in ein großes Glas, fülle großzügig mit etwa einem Liter Olivenöl auf, verschließe das Gefäß und laß es an kühlem und dunklem Ort stehen; nach persönlichem Geschmacksempfinden kann man etwas klein gezupften Rosmarin oder Oregano hinzu fügen. Nach ungefähr einem Monat ist das Bärlauch-Aroma ins Öl übergegangen. Nun kann man es – inklusive der Kräuter oder abgeseiht – in dunkle Flaschen umfüllen. Es eignet sich ideal zum Aromatisieren von Marinaden, Saucen und Suppen.
Dank des milden Winters ist das Kraut mit dem zwar deutlich wahrnehmbaren, doch insgesamt doch eher diskreten Knoblauch-Aroma schon früh zu haben. Der Bärlauch ist tatsächlich ziemlich universal einsetzbar. Bärlauch gefällt als Suppe, macht Salate und Aufläufe pikanter. Er schmeckt auch herrlich pur, grob gehackt und großmütig aufs Butterbrot drapiert oder, angereichert mit Sahne, als Suppe.
Reizvoll gibt er sich als Pesto und als Aufstrich. Letzteres wird so hergestellt: 100 Gramm Butter schaumig streichen und mit 400 Gramm Quark glatt rühren, dann 200 Gramm fein geschnittenen Bärlauch behutsam darin verrühren, mit Salz, Pfeffer und Zitronensaft abschmecken. Das Ganze dann der Optik wegen mit gehacktem Bärlauch bestreuen und aufs Schwarzbrot streichen.
Heinz Winkler liebte Bärlauch zu Lamm
Heinz Winkler, der große Koch aus Aschau („Ich liebe Bärlauch“), verwendete zu Lebzeiten den klassischen Frühlingsblüher, kurz in Butter geschwenkt, als Beilage zu Lammbraten.
Und Eckart Witzigmann, der Grandseigneur der Gastro-Kultur und 1979 als erster Koch in Deutschland mit den drei Sternen vom „Micheln“ geadelt, erzählt gerne die Geschichte, wie er zufällig zum Bärlauch fand. Er spazierte mit Henri Levy, seinem Berliner Kollegen, durch den Englischen Garten in München, als sein Hund sich plötzlich merkwürdig verhielt, bellte und aufgeregt an Blättern schnupperte, die Maiglöckchengrün glichen.
Komisch, es roch nach Knoblauch, was mochte das sein? Levy nahm einige Blätter nach Berlin mit, ließ sie im Botanischen Institut untersuchen und meldete seinem Freund, es sei Bärlauch. Bärlauch? Witzigmann: „Sofort wälzte ich alte Kochbücher und begann, mit dieser in Vergessenheit geratenen Pflanze zu experimentieren.“
Das war vor 40 Jahren, heute wird Bärlauch in der trendigen Regionalküche so selbstverständlich genutzt wie Schnittlauch oder eben Knoblauch, sein olfaktorischer Verwandter. Die Germanen rühmten den Bärlauch als Kraut, das die Macht des Winters bricht. Einer Legende zufolge war das „Lauch des Bären“ sogar die erste Pflanze, mit der sich die namengebenden Tiere nach dem Winterschlaf gestärkt haben sollen. Genau wie seine botanischen Verwandten kann Bärlauch als Gemüse-, Gewürz- und Heilpflanze genutzt werden. In der Volksmedizin nutzt man Bärlauch als Heilpflanze gegen Magen- und Darmbeschwerden, er soll den Blutdruck senken und vorbeugend gegen Herzinfarkt wirken. Sein hoher Gehalt an schwefelhaltigen Verbindungen macht ihn ähnlich wirksam wie Knoblauch, ohne dass er problematischen Atem verursacht. Das Kraut ist reich an Vitamin C, an Eisen, Magnesium und Mangan. Wer sich selber auf die Frühlingspirsch begibt, um wilden Bärlauch zu pflücken, sollte allerdings auf der Hut sein, denn es gibt zwei todesgefährliche Verwechslungskandidaten: das Maiglöckchen sowie die Herbstzeitlose.
Gänseblümchen, Löwenzahn & Co.
Gänseblümchen schmücken und würzen Kartoffelsuppen. Der Löwenzahn mit dem edelbitteren Aroma macht sich auch gut mit lauwarm angerichteten Kartoffelsalat, dem ein Schuß Rindsuppenessenz die rechte Würze verleiht. Die jungen, zarten Blätter des Sauerampfers bereichern Salate, Suppen, Saucen. Kleine Brennessel sind delikat als Gemüse (wie Spinat), vermitteln aber auch, klein gehackt, Suppen und Salaten ihr spezielles Aroma. Brunnenkresse: prickelnde Würze zu Salaten, für Quark, Kartoffeln, hellen Saucen – obendrein sehr gesund, weil reich an Vitaminen, Eisen, Jod. Außerdem soll dieses gesammelte Grün, wie es in einem Kräuterbuch aus dem 16. Jahrhundert verheißungsvoll heißt, selbst notorische Zecher am Morgen danach „munter und wacker“ machen. Wie schön! Das ist die Magie des Grünen und der Blüten, die uns jedes Jahr aufs Neue erfasst. Die Winterschlacke löst sich, die Seele öffnet sich und aus der Küche künden 1001 Aromen vom Frühling, dem großen Charmeur.