Unter classicus verstanden die alten Römer „zum ersten Rang“ gehörende Werke von formvollendeter Harmonie – und Geschmack, wenn es ums Essen ging. Klassiker der Kochkunst sind auch heute überall dort zu Hause, wo ein Koch am Herd steht, der sich nach dem Ausreizen aller technischen Innovationen und Grenzen wieder den bewährten Rezepten nach dem Leitmotiv „Küche statt Bling-Bling“ widmet. Das Genussatelier präsentiert eine Klassiker-Serie als Hommage an die Kochkunst mit Gerichten aus der Hoch- wie der Bürgerküche von ewigem Geschmack und zeitloser Schönheit.
Heute: Königsberger Klopse.
Historisch gesehen ist der Knödel klassischer Machart eine eher unbekannte Größe. Niemand weiß genau, wann und wo von wem der erste Semmel-, Speck-, Kartoffel- oder Leberknödel geformt worden ist. Die älteste bildliche Darstellung befindet sich in der Burgkapelle von Hocheppan nahe Bozen. Das Fresko aus dem 12. Jahrhundert zeigt neben dem Wochenbett Marias eine Wehmutter, die in der einen Hand ein Kochgeschirr mit fünf kugelrunden Knödeln hält und mit der anderen einen Knödel zum Mund führt. Mit Sicherheit ist anzunehmen, dass es weit früher knödelähnliche Speisen gegeben hat. Die runde, mit Händen leicht formbare Gestalt lud geradezu zwingend zur Erfindung der kugeligen Form ein. Jedenfalls tauchte der Urknödel aus den Töpfen des Mittelalters scheinbar plötzlich und ohne Vorwarnung in der neueren Küchengeschichte auf, wahrhaft, nahrhaft und vor allem rund.
Auch der Königsberger Klops hat seine Mythen. So populär er ist – laut einer Forsa-Umfrage kennen ihn 93 Prozent der Deutschen – , so wenig weiß man über die Geschichte dieses ostpreußischen Traditionalisten, der übrigens wie viele Klassiker darunter zu leiden hat, dass er von der Lebensmittelinindustrie schamlos verdost und von Schlampern in der Küche bis zur Unkenntlichkeit verhunzt wird. Immer wieder vergreifen sich Köche an solchen geheiligten Rezepturen – der Popularität folgt ja bekanntlich auch in Kulinarien oft die Entwertung durch Banausen.
Kulturhistoriker bezweifeln allerdings Königsberg als Urheimat; wahrscheinlich sei das Gericht mit der charakteristischen säuerlichen Soße auch in Westpreußen und Teilen von Polen sowie des Baltikums heimisch gewesen. Tatsächlich ist in den Kochbüchern vor 1875 kein Hinweis auf Königsberg zu finden. Stattdessen hießen Gerichte, die in ihrer Zusammensetzung dem heutigen Königsberger Klops ähneln, schlicht „Klopps von Kalbsfleisch“, „Preußischer Klopps“ oder auch „Danziger Klopps“ (Mecklenburgisches Kochbuch von 1868).
Und „Klops“, so wird es im „Gastronomischen Lexikon“ von Scheichelbauer/Giblhauser 1908 definiert, „ist ein von Sehnen u. Fett befreites, gehacktes Fleisch von Wild, Rind oder Schwein, in Form von Koteletten oder Knödel gebracht“. Die erste geografische Zuordnung bietet Meyers Konversationslexikon von 1888: „Klößchen oder kotelettförmige Scheiben aus gehacktem Rindfleisch oder aus einer Mischung von Rind-, Kalb- und Schweinefleisch, werden entweder gebraten oder gedünstet und dann mit einer pikanten weißen Sauce serviert (Klops à la Königsberg).“
Den Klopps erklärt Pierers Universal-Lexikon 1857 noch so: „…den Beefsteaks ähnliche Speise aus dünnen Stücken Fleisch, die vorher mit einem hölzernen Hammer mürbe geklopft werden, mit Häring, geriebener Semmel, Zwiebel, Sardellen, Citronen etc. in Butter geschmort.“
Der Klops leitet sich wohl vom niederdeutschen „Kloppen“ für klopfen ab – schließlich ist der Fleischwolf erst um 1850 herum erfunden worden, bis dahin wurde Fleisch für Hackspeisen erst weich geklopft und dann fein geschabt.
Aufs Ganze gesehen, versteht man küchentechnisch unter Königsberger Klopsen heute gekochte, mit gehacktem Salzhering (oder Sardellen), Zwiebeln, eingeweichtem Weißbrot, Ei sowie Gewürzen angereicherte Fleischbällchen, die in Salzwasser (oder in der Luxusvariante mit einer Fleischbrühe) mit Zwiebeln, Pfeffer, Piment und Lorbeer (nach Belieben mit Essig oder Weißwein aromatisiert) gegart und danach in der typischen weißen Sauce, angerührt aus der durchgesiebten Kochbrühe mit heller Mehlschwitze, Sahne und Eigelb nebst Zitronensaft und Kapern serviert werden.
Gängige Beilagen sind Salzkartoffeln oder Reis, auch eingelegte Rote Bete gelten als klassisch.
Offen ist die Wahl des Fleisches, Rind ist ebenso erlaubt wie Schwein oder Kalb sowie eine Mischung aus allem. Im „Leibgericht“, 1955 erschienen, werden die Königsberger Klopse so beschrieben: „Soßklopse, wie man in Ostpreußen sagte, wurden sonntags in vielen bäuerlichen Familien gegessen. Gemahlenes Rind- und Schweinefleisch wird mit Reibbrot, Salz, Pfeffer, Zwiebeln und einem Ei zu einem Teig geknetet und kleine Kugeln, also Klopse, daraus geformt. Diese werden in Wasser, das mit Salz, Zwiebeln, Selleriestückchen und Lorbeerblatt gewürzt ist, gar gekocht. Die Soße rührt man mit Sahne, eventuell auch noch mit einem Ei an. Grüne, fein geschnittene Petersilie wird zum Schluß übergestreut.“
In der Oeconomische Encyclopaedia von Johann Georg Krünitz (1787) wird der „Preußische Klopps“ als Samstagsmahlzeit präsentiert, während er in Gaststätten samt einem Glas Wein zum Frühstück serviert würde.
Tim Raue und sein finessig modifizierter Klops
Läßt sich ein Wiener Schnitzel, zubereitet aus Kalbfleisch, liebevoll paniert und in reichlich heiß zischendem Fett, ob Butterschmalz oder eine Mischung aus Schweineschmalz und Butter, mittels rhythmisch hin und her bewegter Eisenpfanne, geschmacklich verbessern? Nein, allenfalls verändern.
Einer, der sich eines Klassikers annimmt und den im besten Sinne verfeinert, ist Tim Raue. Dessen Königsberger Klopse sind nahe am Original, der Meister formt die Rundlinge aus Hack, gekochten Backen sowie Zunge vom Kalb mit Eigelb und Senf – und die werden in einer mit Geflügelfond und Riesling-Auslese gerührten Rahmsauce aufgetischt.
Eine allgemeingültige, sozusagen absolute Rezeptur gibt es nicht.
Abgesehen von der Freiheit bei der Fleischwahl bestehen von Kochbuch zu Kochbuch – und mehr noch von Haushalt zu Haushalt – erhebliche Unterschiede bei der Angabe der Ingredienzien bis hin zur Frage: Salzhering oder Sardelle? Henriette Davidis läßt in ihrem Klassiker von 1845 („Praktisches Kochbuch für die bürgerliche und feine Küche“) beides gelten: „In die Sauce tut man 2 Eßlöffel fein gewiegte Sardellen oder einen gut gewässerten, fein gewiegten Hering.“ Die Klöße formt sie aus 1/2 kg gewiegtem Rindfleisch und 125 g gewiegtem Schweinefleisch mit 2 Eiern, 1 eingeweichten Milchbrot plus geriebener Semmel. Im Mecklenburgischen Kochbuch der Frieda Ritzerow (1868) wird für den Danziger Klopps fein gehacktes Rindfleisch plus Nierenfett vorgeschrieben. Die Autorin plädiert für Sardellen „oder in Ermangelung derselben einen Hering“.
Emma Quenzer empfiehlt in ihrem 1933 präsentierten „Koch- und Haushaltungsbuch“ eine Mischung aus halbehalbe Rind- und Schweinefleisch; die weiteren Zutaten à la Eier, Butter, Zwiebel, Weckmehl, Salz, Pfeffer, Muskat, Mehl, Zitrone, Sardellen und Kapern sind standardisiert. Großzügig bemißt die Lehrerin der Koch- und Haushaltungsschule des Schwäbischen Frauenvereins in Stuttgart die Butterzugabe mit 160 Gramm, ihre „Klopsbrühe“ ist ein Sud „von den Fleischabfällen“ und weil ihr das wohl etwas zu karg scheint, fügt sie in Klammer als aromatisierendes i-Tüpferl ein Glas Weißwein hinzu.
Bescheidener gibt sich Franz Ruhm, der Wiener Koch, der in seinem 1933 erschienenen „Kochbuch für Alle“ die Klöpse in Salzwasser köcheln läßt und die in einer „dicklichen Sauce“ aus 40 Gramm Mehl und ebenso viel Butter zuzüglich der „Klopssuppe“ mit einigen Kapern „noch eine Weile dämpfen läßt“. Immerhin besteht der Mann auf Kalbfleisch „von allen Häuten befreit“.
Richard Hering besteht in seinem „Lexikon der Küche“ von 1961 wiederum auf geschabtem Rindfleisch und Schweinefleisch sowie auf Salzsardellen. In ihrem gelben Kochbuch verlangt Elly Petersen (1937) im Gegensatz zum „Klops mit Sardellensauce“ für den Königsberger Klops „statt der Sardellen 1 Salzhering“, der, gewässert, geputzt und fein gewiegt, jeweils zur Hälfte für die Klopse und die Heringssauce verwendet wird, der man „auf Wunsch auch einige Kapern beigibt“.
Herbert Birle plädiert in seiner „Sprache der Küche“ gleichfalls fürs Sardellenfilet, erlaubt jedoch liberal auch Sardellenpaste. Es darf angenommen werden, dass in begüterten altdeutschen Familien die Klopse aus Kalbfleisch und Sardellen bestanden, wohingegen man sich in ärmeren Haushalten mit Schwein und Hering begnügte. Und Kapern waren im 19. Jahrhundert eine teure Delikatesse. Halbwegs einig waren sich die professionellen Köche bezüglich des Würzens, bereits früh finden sich in den Rezepten die Zitrone (entweder als Saft oder fein geriebene Schale) nebst klein gehackten Sardellen, Kapern, Muskat und dem Lorbeerblatt als Zutaten für die charakteristische pikant ins leicht Säuerliche weisende Note.
Otto Nebelthau, der Romancier und geistreiche Autor kulinarischer Schriften, läßt nur Schweinefleisch zum Klops gelten, der nach seinem eigenwillig angelegten Rezept mit winzigen Würfelchen Weißbrot, Ei, etwas Mehl, etwas Semmelbrösel, zerstoßenem Zwieback und einer Spur Basilikum geformt wird. Die weiße Soße negiert er zugunsten von gebuttertem Reis mit reichlich Kapern: „ein richtiges Schmausegericht.“
„Es ist nicht zweckvoll, für den Klops ein Rezept zu geben, behauptet wiederum Ernst Marquardt 1935 in der deutschen Heimatküche, “denn jede Hausfrau nimmt für ihn, was sie eben hat: viel Fleisch, viele Eier, wenig Brot, gute Fleischbrühe.“ Und er mutmaßt: „Ob der Klops nun wirklich in Königsberg beheimatet ist oder nicht, gegessen wird er jedenfalls in Deutschland überall, wo sorgende und sparsame Hausfrauen ihres Amtes walten.“
Der Phantasie sind beim Klopsmachen also wenige Grenzen gesetzt. Andererseits sollte man nicht zu kühn experimentierten. Ein Klassiker wie der Königsberger Klops ist vollendet komponiert und bedarf keiner neuen Töne. Er ist frisch vom Herd eine köstliche Vulgarität, basierend auf dem Motto: „Jeder Knödel ist rund, aber nicht alles Runde ist ein Königsberger Klops.“
Kafel